Auf der allerkleinsten Skala ist die Raumzeit nicht flie§end, sondern zerstŸckelt. Die Utrechter Physikerin Renate Loll klebte als erste aus Mikrobausteinen eine Welt mit der richtigen Anzahl Dimensionen zusammen. Dirk von Delft
FŸr Renate Loll kann im Jahr 2005 schon nichts mehr schief gehen. Die in Aachen geborene theoretische Physikerin, Mitarbeiterin des Spinoza-Instituts der UniversitŠt Utrecht, bekam vor Weihnachten von der NiederlŠndischen Organisation fŸr wissenschaftliche Forschung (NWO) 1,25 Millionen Euro, um innerhalb von 5 Jahren eine eigene Gruppe aufbauen, die die Quantenstruktur der Raumzeit untersucht. Kurz zuvor hatte sie schon von der EU 2,93 Millionen eingeheimst, um ein Netzwerk von 13 europŠischen Instituten aufzubauen, die auf dem Gebiet der sogenannten Zufallsgeometrien zusammen arbeiten. Dabei geht es um eine Technik, die Raumzeit auf extrem kleiner Skala zu erfassen, die aber als mathematische Methode auch anderswo einsetzbar ist.
ãIch denke gerneÒ, sagt Renate Loll in ihrem Arbeitszimmer im Minnaertbau, am Rand des Utrechter CampusÕ Uithof. ãDas hŠlt mich geistig fit. Bei der Struktur von Raumzeit befindet man sich wirklich am Rand des Vorstellbaren. Es gibt noch viele RŠtsel zu lšsen, und es ist spannend Wege einzuschlagen, die noch niemand gegangen ist. In der Physik ist es klar, in welche Richtung man arbeitet. Ich war auch ein Jahr lang auf der London School of Economics. Da geht es um das Verhalten von Menschen, was frustrierend schwierig ist. Mein Partner ist auch Physiker, was ich als Vorteil ansehe, da man mit jemandem Ÿber seine Arbeit sprechen kann. Und sobald man lŠnger in diesem Fach dabei ist, spielt das konkurrierende Element eine geringere Rolle. Auch finde ich es angenehm, dass ich nichts erklŠren muss, wenn ich mitten in der Nacht stundenlang auf ein Blatt Papier starre.Ò
Lolls Arbeitsgebiet ist die Quantengravitation. Deren grundlegendes Problem ist, dass Einsteins Beschreibung der Schwerkraft, die allgemeine RelativitŠtstheorie von 1915, mit der Quantentheorie auf Kriegsfu§ steht, die in den zwanziger Jahren von Heisenberg, Schršdinger, Dirac und anderen entwickelt wurde. Bei Einstein wird die vierdimensionale Raumzeit (drei fŸr den Raum, eine fŸr die Zeit) unter dem Einfluss von Masse (oder Energie) gekrŸmmt. Die Folge ist, dass ein an der Sonne vorbei laufender Lichtstrahl abgelenkt wird. Als Eddington 1919 wŠhrend einer Sonnenfinsternis diesen Effekt beobachtete, war Einstein mit einem Schlag weltberŸhmt. Bei Einstein ist die Raumzeit dehnbar, aber zugleich auch kontinuierlich und glatt, sie enthŠlt beispielsweise keine Risse.
Planckskala. In der Quantentheorie, die die mikroskopische Struktur der Welt beschreibt, lŠsst sich diese Sichtweise nicht mehr aufrecht erhalten. Zu den SŠulen dieser Theorie gehšren die berŸhmten UnschŠrferelationen von Heisenberg: je kleiner die betrachtete LŠngenskala, desto grš§er die damit einhergehenden Energiefluktuationen. Diese Fluktuationen Šussern sich jedoch Einstein zufolge in einer KrŸmmung der Raumzeit. Loll: ãAuf der Planckskala Ð der kleinsten LŠngeneinheit, Ÿber die man in der Quantentheorie noch sinnvoll sprechen kann und wo man es mit Zahlen mit 35 Nullen hinter dem Komma zu tun hat Ð sind die Energiefluktuationen extrem gro§. In meiner Theorie wird dadurch die Raumzeit unendlich gekrŸmmt, mit unendlich vielen Falten. Aber es gibt auch Physiker, die mit Rissen oder Lšchern arbeiten. Anstelle eines Kontinuums zerfŠllt die Raumzeit in einzelne Bršckchen, manche sprechen von Quantenschaum. Die Aufgabe der Quantengravitation ist die Beschreibung dieser turbulenten Verformung der Raumzeit, und dazu reicht die Mathematik von Einsteins kontinuierlicher Raumzeit plus wellenartigen Stšrungen nicht mehr aus.Ò
Wie rekonstruiert man unser bekanntes Universum mit seiner vierdimensionalen Raumzeit aus wild fluktuierendem Quantenschaum? In dieser seit Jahrzehnten offenen Frage gelang Renate Loll im Herbst 2004 ein Durchbruch. Ihr Ausgangspunkt war dabei nicht neu: man nehme mikroskopische StŸcke flacher Raumzeit und klebe sie auf jede nur erdenkliche Weise aneinander. Indem man alle diese Mšglichkeiten Ÿberlagert Ð ein Standardansatz in der Quantentheorie Ð baut man sich ein makroskopisches Universum. Loll: ãIch arbeite nicht mit zwei-, sondern vierdimensionalen Dreiecken. Diese Art geometrischer Formulierung spricht mich an. Das Problem der Ÿberlagerungstechnik war bisher immer, dass das sich ergebende Universum entweder zwei oder unendlich viele Dimensionen besa§. Man hatte also irgendetwas grundlegend falsch gemacht.Ò
Aufgerollt. Eine Struktur, die aus vierdimensionalen ãDreieckenÒ aufgebaut ist, ist selbst nicht wieder unbedingt vierdimensional. Im Fall von flachen zweidimensionalen Dreiecken kann das Ergebnis zum Beispiel eine Art ãaufgerollterÒ Struktur sein, die, genau wie ein von weitem betrachtetes Regenabflussrohr, auf gro§en Skalen eindimensional erscheint. Im Ÿbrigen ist die Wahl dreieckiger Bausteine nicht wesentlich: viereckige Bausteine wŸrden dasselbe makroskopische Endergebnis liefern. Bei der enormen Zahl mikroskopischer Bausteine fallen deren geometrische Einzelheiten im Endresultat heraus. Die Wahl von Dreiecken ist lediglich mathematisch bequem.
Lolls entscheidende Idee war, an die Dreiecke zusŠtzliche kausale Anforderungen zu stellen: Ursachen mŸssen Folgen vorausgehen. ãSo geht das in der Forschung: in deinem Kopf entwickelt sich eine fantastische Idee und du stellst fest Ð ahhhh! Ð das geht ja! Die Jahre der Anstrengungen, die dich fŸr diese fantastische Eingebung empfŠnglich gemacht haben, spielen auf einmal keine Rolle mehr. Dann besprichst du dich mit Kollegen, die mit der Dreieckstechnik vertraut sind, und die sagen: ,Vergi§ es. Das klappt sowieso nicht.Õ Aber in diesem Fach darf man sich nicht zu schnell entmutigen lassen! Ich bin dann zunŠchst der Frage nachgegangen, ob dieselbe Idee im einfachen Fall von zwei Dimensionen etwas Interessantes ergab, was sie auch tat. Daraufhin machte ich mit Hilfe von Computermodellen den Schritt zu drei und vier Dimensionen. Mit dem Ergebnis, dass wir tatsŠchlich ein vierdimensionales Universum erhielten.Ò Diese Arbeit erschien am 24. September in der renommierten Fachzeitschrift Physical Review Letters.
Die gro§e Herausforderung, die noch vor Renate Loll und ihrer im Aufbau befindlichen Forschungsgruppe liegt, ist nachzuprŸfen, ob die so erzeugte vierdimensionale Raumzeit makroskopisch wieder schšne glatte ãEinsteinscheÒ Eigenschaften annimmt. Loll: ãSobald dies bestŠtigt ist, kšnnen wir daran gehen, die Quantengravitation im Bereich zwischen Planck- und Makroskala zu untersuchen. Fragen gibt es da zur GenŸge. Verursacht die zusŠtzliche Raumzeitstruktur einen kumulativen Effekt, der seine Spuren in einem Lichtstrahl hinterlŠsst, der uns aus der Tiefe des Weltalls erreicht? Ein anderer Knackpunkt: wie sieht es mit der Quantengravitation schwarzer Lšcher aus, Objekten, die so kompakt sind, dass absolut nichts, auch kein Licht, aus ihnen herausdringen kann, die aber dennoch aufgrund der Heisenbergschen UnschŠrfe strahlen? Da gibt es noch viele ungelšste RŠtsel.Ò
Das von Loll koordinierte EuropŠische Netzwerk ist auf geometrische Methoden (Zufallsgeometrien) wie die des willkŸrlichen Aneinanderklebens vierdimensionaler Dreiecke spezialisiert. Das gleiche Prinzip funktioniert aber auch in einer Dimension. Loll: ãDort benutzt man Knotenpunkte und Verbindungslinien, man denke nur an Webseiten mit ihren Querverweisen. Anwendungen gibt es Ÿberall, auch in der Informatik und Zellbiologie. Die mathematischen und statistischen Beschreibungen im ein- und mehrdimensionalen Fall sind dabei Šhnlich. Die Teilnehmer des ENRAGE-Netzwerks (European Network of RAndom GEometries) sind allesamt theoretische Physiker, kommen aber aus ganz verschiedenen Fachrichtungen, was auch einen Studentenaustausch attraktiv macht.Ò
ENRAGE hat sich explizit zum Ziel gesetzt, mehr Frauen in die Grundlagenphysik zu locken. Loll: ãDas ist dringend nštig. Die Zahl der Frauen, die sich zu einem naturwissenschaftlichen Studium entschliesst, ist bedauernswert gering. Auch wenn wir nicht všllig im Dunkeln tappen, warum das so ist, gibt es doch keine einfache, eindeutige Ursache oder ein Heilmittel. Beginnen wir damit, Fakten zu sammeln. Auf jeder Ebene kann etwas falsch laufen Ð Eltern, Kindergarten, Schule, UniversitŠt. Was auch wiederum hei§t, dass man auf jeder Ebene Ma§nahmen treffen kann. Auf einer Physikerinnentagung hšrte ich von verschiedenen Teilnehmerinnen, dass sie auf der weiterfŸhrenden Schule entmutigt worden waren, aber trotzdem weitergemacht hatten. Mir fiel jedoch auf, dass keine dieser Frauen es in der Wissenschaft weit gebracht hatte.Ò
ãDas erinnert mich an eine Konferenz, an der ich als junge Studentin teilnahm. ,Was macht denn so eine nette junge Dame hier?Õ bemerkte ein freundlicher Šlterer Physiker, mit dem Unterton: ,WŠrest du nicht besser Malerin?Õ Aber ich wusste, was ich wollte und war wenig empfŠnglich dafŸr, was andere davon hielten. Das ist auch eine Frage von Persšnlichkeit. Wenn man sich durch diese Art Kritik einfach umblasen lŠsst, kommt man zu nichts.Ò
Bildunterschrift: ,Vierdimensionaler Picasso`: durch das Verkleben mikroskopisch kleiner Dreiecke konstruierte Renate Loll eine Raumzeit mit vier Dimensionen, wie die unseres tatsŠchlichen Universums.